Ein gesundes Hobby

Eßlinger Zeitung vom 8. Juni 2010

020610g1

Wenn Jochem Nietzold seine Pflanzen besucht hat, überträgt er die gesammelten Beobachtungen in Ordner. Um die 400.000 Daten lagern inzwischen in seiner Wohnung.


Ostfildern-Ruit: Jochem Nietzold sammelt seit einem halben Jahrhundert Pflanzendaten

„Wenn Sie feststellen, wann bestimmte Pflanzen anfangen zu blühen, lässt sich – im Vergleich mit weiteren Daten – zum Beispiel schlussfolgern, wie sich die Vegetationsphase weiter entwickelt. Das ist unter anderem für Landwirte interessant.“ Jochem Nietzold sucht Woche für Woche bestimmte Bäume, Felder und Einzelpflanzen in Ruit auf und notiert deren Wachstumsphase. Das macht der 82-Jährige seit 54 Jahren, 44 davon für den Deutschen Wetterdienst (DWD).

Von Gesa von Leesen

Ungefähr drei Mal die Woche ist der pensionierte Lehrer unterwegs, um seine Pflanzen abzuklappern. Blattaustrieb, Blüte, Fruchtreife, Laubverfärbung, Blattfall sind nur einige Kriterien, die festgehalten werden müssen. 47 Arten stehen unter der Beobachtung für den DWD, Phänologie nennt sich diese Wissenschaft der jahreszeitlich bedingten Erscheinungsformen bei Pflanzen. Einmal im Monat schickt Nietzold die Daten an den DWD. Dazu kommen Sofortmeldungen für Allergiker. Zusätzlich erfasst der Biologe die Vegetationsstände von weiteren 867 verschiedenen Kräutern, Sträuchern und Bäumen – auch das schon seit Jahrzehnten. Um die 400.000 Daten haben sich so in zahlreichen Ordnern angesammelt. Akribisch stellt der Naturwissenschaftler daraus Reihen auf, vergleicht, berechnet Durchschnittswerte, stellt Verbindungen und Abweichungen her. Er ermittelt die Phasen des Wachstums und die von der Blüte bis zur Fruchtreife, setzt die Phasen zueinander in Verhältnis. „Wenn ich die Daten mittle, komme ich auf den Goldenen Schnitt“, berichtet Nietzold begeistert. „Ich nähere mich der Goetheschen Urpflanze!“
Dem Laien bleibt also manches unverständlich. Dass es sinnvoll ist, anhand des Pflanzenwachstums die weitere Entwicklung in der Natur zu ermitteln, leuchtet aber ein. Funktionieren kann das jedoch nur, wenn die Daten kontinuierlich gesammelt und ausgewertet werden. Sonst sind Abweichungen und Veränderungen nicht erkennbar. Neben der Landwirtschaft, die unmittelbar von den phänologischen Beobachtungen profitieren kann, sind Erkenntnisse auch für andere Bereiche denkbar. Nietzold: „Wenn Sie zum Beispiel einen Film in der Lüneburger Heide drehen wollen, möchten Sie ja wissen, wann die blüht. Dann rufen Sie in Offenbach beim DWD an. Die haben die Mittelwerte und die Jahreswerte und können daraus ableiten: Ab 25. Juli blüht die Heide.“
1955 verließ der Thüringer mit seiner Frau die DDR. Es dauerte einige Jahre bis die beiden Lehrer wieder in ihrem Beruf arbeiten konnten. Endlich klappte es für ihn mit einer Lehreranstellung in der Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart. Weil dort aber ein eklatanter Turnlehrermangel herrschte, wurde Nietzold vor allem Turnlehrer. „Mein Vater war thüringischer Zehnkampfmeister gewesen, turnen konnte ich also.“ Doch auch in Deutsch, Stenografie, Geografie und Wetterkunde stand Nietzold 35 Jahre lang vor Schulklassen. „Aber eben wenig naturwissenschaftliche Fächer.“ Diesen Mangel glich (und gleicht) der fit wirkende Rentner seit einem halben Jahrhundert durch die phänologischen Beobachtungen aus. Auch wenn er mit dem Datensammeln wahrscheinlich nie ganz aufhören können wird – die Pflicht, für den DWD loszuziehen, wird ihm langsam zu viel. Er und der Deutsche Wetterdienst würden sich freuen, wenn sich ein Nachfolger fände. Nietzold hat notier, welche Voraussetzungen der oder die mitbringen sollte: Freude an Naturbeobachtungen, Gute Kenntnisse über Pflanzen und er oder sie muss zuverlässig und gewissenhaft und sesshaft sein. Als Entschädigung für die Beobachtung und Meldung der Erkenntnisse zahlt der DWD 230 Euro im Jahr. Gut geeignet seien erfahrungsgemäß Landwirte, Gärtner, Lehrer, Mitglieder von naturkundlichen Vereinen, weiß Ekko Bruns, der beim DWD für das 1300 ehrenamtliche Mitarbeiter umfassende phänologische Beobachternetz zuständig ist. Gerade für Ruit wieder jemanden zu finden, liegt ihm sehr am Herzen: „Kein anderer hat so viele Daten erhoben wie Herr Nietzold und kein anderer lebt die Phänologie so wie er. Diese Datenreihen möchten wir sehr gerne fortgeführt wissen.“ Und Jochem Nietzold selbst ist gerne bereit, seinen Nachfolger einzuarbeiten. Vielleicht schafft auch der es dann irgendwann, wie Nietzold die Frage „Wie wird dieser Sommer?“ zu beantworten. Nietzold verweist auf einen Zwölf-Jahres-Rhythmus´, in dem 220 Jahre statistisches Material ausgewertet sind: „Danach wird der Sommer wahrscheinlich sehr wechselhaft mit extremen Temperaturschwankungen und Niederschlägen. Und dann folgt ein milder Winter.“


Kontakt:
Wer interessiert ist, in Ruit phänologische Daten für den Deutschen Wetterdienst zu sammeln, möge sich dort wenden an: Ekko Bruns, Tel. 069/80 62 20 22, oder Email: ekko.bruns@dwd.de

http://www.dwd.de

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Mein Arbeitsplatz: Sechs...
Magazin Mitbestimmung, Ausgabe 10/2012 Ahmed Basam...
geleesen - 19. Nov, 18:34
»Heute fühle ich mich...
Über 60 und noch in Protestlaune - eine neue Generation...
geleesen - 19. Nov, 18:24
Putzmeister in Kommunistenhand
Kontext:Wochenzeitung, 08. Februar 2012 Von Gesa von...
geleesen - 25. Feb, 15:02
Doppelhaushalt animiert...
Eßlinger Zeitung, 08. Februar 2012 FILDERSTADT: Investitionen...
geleesen - 25. Feb, 14:54
Im Reich der Achatschnecke
Eßlinger Zeitung, 05. November 2010 Leinfelden-Echterdin gen:...
geleesen - 10. Nov, 16:46
„Jetzt habe ich ein komplettes...
Eßlinger Zeitung, 01. November 2010 OSTFILDERN-RUIT:...
geleesen - 10. Nov, 16:44
Mit Stuttgart 21 die...
Eßlinger Zeitung 17.Oktober 2010 Plochingen: CDU-Kreisparteitag...
geleesen - 10. Nov, 16:38
„All diese Räume für...
Eßlinger Zeitung 22. Juni 2010 Esslingen: Frauen aus...
geleesen - 21. Jun, 12:10

Besucher seit 17.06.10

Suche

 

Status

Online seit 5070 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 19. Nov, 18:35

Credits


Esslingen Stadt
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren